70 Minuten Einsamkeit

Gar wunderbar war der erste Lockdown-Abend verlaufen! Das deutsche 0:6-Debakel in Spanien bescherte dem neutralen und unvoreingenommenen Zuschauer am Dienstag einen historischen Glücksmoment. Am folgenden Fußballabend stand Österreich gegen Norwegen B auf dem Programm. Obwohl der Aufstieg in die höchste Nations-League-Klasse durch ein mageres 1:1 geschafft wurde, hinterließ er in mehrfacher Hinsicht einen bitteren Nachgeschmack…

Die Grundvoraussetzungen im Vorfeld des Spiels des österreichischen Favoriten gegen die von den Medien fahrlässig als Not-Elf verniedlichten Wikinger waren eigentlich hervorragend. Das österreichische Team hatte es im Laufe des Herbsts zu einem landesuntypischen Charakteristikum gebracht: maximaler Erfolg bei minimaler Leistung. Beinahe hätte man es dabei zur absoluten Perfektion gebracht: Um ein Haar hätte Norwegen coronabedingt gar nicht antreten können, sodass wir diesmal sogar ohne Leistung gewinnen hätten können. Doch es kam anders!

Erfreulich war, dass sich meine geliebte Gattin K., die mit meiner Tochter T. ein blasphemisches grundsätzliches Desinteresse am Fußball teilt, vor Spielbeginn nicht gleich reflexhaft ins Schlafzimmer verzog. Mit Engelszungen und einer gewissen dichterischen Freiheit hatte ich in den schillerndsten Farben die monumentale Bedeutung der Nations League herausgearbeitet. Es sei schlicht denkunmöglich, sich an diesem Abend dem in Corona-Zeiten gemeinsam entwickelten Ritual der Abarbeitung sämtlicher „Games of Thrones“-Staffeln auf Netflix zu widmen. Dementsprechend widerborstig war die Fußballfanfrau bereits bei Sendungsbeginn eingestellt. „Wir gewinnen 3:0“, meinte Herbert Prohaska. „4:0“, lizitierte Helge Payer die Prognose lasziv nach oben. „Die sind wahnsinnig arrogant. Sehr unsympathisch!“, brummte die Gattin. „Wir gewinnen 5:0!“, erwiderte ich. Und als ich angewidertes Schweigen erntete, fügte ich hinzu: „Ich sage ja nicht, dass Österreich gestern die Deutschen auch 6:0 paniert hätte. So weit sind wir noch nicht – aber niemals hätten wir jedenfalls so hoch verloren.“ Da hörte mir die Fußballfanfrau längst nicht mehr zu, weil sie sich aus Trotz in den für wenige Sekunden eingeblendeten norwegischen Coach verliebt hatte. „Walfänger-Gesindel“, schrie ich, als ich das amouröse Malheur bemerkte. „Corona-Weltmeister!“, konterte K. So ging es hin und her, bis sich meine Partnerin rund um die 20. Spielminute – mit einem Wortschwall fachweibischer Kritik über das Spielgeschehen – ins Schlafgemach zurückzog, um sich der Lektüre ihres aktuellen Romans zu widmen (vermutetes Strickmuster der Handlung: kanadische Kinderärztin mit einem ganzen Arsch voller seelischer Befindlichkeiten verliebt sich in einen gutaussehenden mexikanischen Holzfäller mit einem dunklen Geheimnis und findet am Ende einer elendslangen Suche nach irgendeiner Kraft selbige überraschender Weise in sich selbst – Aarghh!)

Es blieb mir also nichts anderes über als die 70 restlichen erbärmlichen Minuten des Spiels in weitgehender Einsamkeit zu verfolgen. Einzig Kommentator Oliver Polzer, die in diesem Fall für unser Wohnzimmer zugelassene haushaltsfremde Einzelperson, leistete mir Gesellschaft, die allerdings auch nicht vergnügungssteuerpflichtig war. „Dreh leiser!“, rief die Fußballfanfrau nach Schlusspfiff vom Schlafzimmer her – und ich weiß bis heute nicht, wie sie das gemeint hat!

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