Wie oft kann man dem Fußball die Seele rauben?

Wie oft kann man dem Fußballfan das Herz noch brechen, bis er sich von seiner großen Liebe abwendet?

Dreimal bereits hat man dem Fußball seine Seele geraubt – und er ist immer noch da! Zuerst dem Ball, dann dem Sport und durch den VAR (Video Assistent Referee) jetzt auch noch dem Spiel. Per religiöser Definition – und was wäre Fußball anderes als Religion – ist etwas, was keine Seele besitzt, tot. Nicht so der Fußball!
In den 60er Jahren hatte der sprichwörtlich gewordene Lederball noch eine Seele. So wurde die innere Gummiblase mit Ventil bezeichnet, die von einem händisch genähten Ledermantel umschlossen war. Auch ich besaß einen solchen, ein Beutestück vom alten LAC-Platz im dritten Wiener Bezirk, der seinen Weg ins Waldviertel fand. Das brachte mich in der Hierarchie der adoleszenten Hackordnung ganz weit nach oben. Wurde die Kugel nass, steigerte sie ihr Gewicht von den standardisierten 450 Gramm auf ein knappes Kilo. Mein Vater führte schlechte schulische Leistungen seines einzigen Sohnes stets auf übermäßiges Kopfballtraining bei Regenwetter zurück. Platzte eine Naht auf, musste das Spiel sofort gestoppt werden, um die verletzliche Seele zu schützen, und der nächstgelegene Schuster wurde gerufen. Heute besteht der Ball aus Fünf- und Sechsecken aus Kunststoff, die mit geschweißten Klebenähten verbunden sind. Bei Nässe steigt das Gewicht des Balles gerade einmal um 0,1%, die Flugeigenschaften verändern sich nicht mehr, die moderne Technik hat dem Fußball das Eigenleben und im wahrsten Sinn des Wortes die Seele genommen.
Ein weiteres neuralgisches Datum für die Entseelung des Fußballs war aus meiner Sicht Anfang der Neunziger Jahre, als der Pokal der Landesmeister in die unselige Champions League übergeführt wurde. Fernseh- und Sponsorengelder begannen darüber zu bestimmen, wer teilnehmen darf und wer nicht. Schon lange gibt es keine Liga der Champions mehr, sondern nur einen besseren UEFA-Cup mit Beteiligung der Landesmeister. Erlernt haben die UEFA-Funktionäre die unanständige Geschäftstüchtigkeit natürlich von den FIFA-Verantwortlichen. Heute führen wir eine entbehrliche Diskussion, warum eine WM dort stattfindet, wo sie gerade stattfindet. Eine völkerverbindende Idee ist durch schiere Geldgier in das Fahrwasser von Diskriminierung und Polarisierung geraten und die Verantwortlichen sind zumindest mitverantwortlich am Leid der Familien ausgebeuteter und ums Leben gekommener Arbeiter. Die kontinentalen Dachverbände mit der FIFA an der Spitze haben die Seele des Fußballsports verkauft.
Und nun raubt man durch den VAR auch noch dem Spiel selbst die Seele. Bitte nicht falsch verstehen, ich bin durchaus dafür, dass Schiedsrichterentscheidungen korrekt getroffen werden. Aber der Tormann macht Fehler, der Verteidiger, der Mittelfeldspieler und der Stürmer auch, warum darf der Schiedsrichter keine Fehler machen? All das gehört zum Spiel! Andere Sportarten beziehen den Großteil ihrer emotionalen Wirkung aus den Unzulänglichkeiten von Kampfrichtern. Menschen spielen gegen Menschen, Menschen beurteilen Dinge, die Menschen tun. Scheißegal, wieviel Geld im Spiel ist. Davon abgesehen fällt der VAR ebenfalls Fehlentscheidungen, weniger sicher, aber sicher auch nicht keine! Aus meiner bescheidenen Fansicht ist aber das Hauptproblem des VAR, dass er dem Spiel die Dynamik nimmt. Unter Druck stehende Mannschaften können sich bei einer etwaigen Überprüfung minutenlang regenerieren, Mannschaften, die Druck ausgeübt haben, werden brutal gestoppt, die mühsam erarbeitete Dominanz wird neutralisiert. Das oft im Sport apostrophierte Momentum wechselt die Seite! Die Spielausgänge werden verfälscht! Den untauglichen Versuch bei der aktuellen WM, die Überprüfungszeiten hinten anzuhängen – Spiele dauern dadurch 10 bis 20 Minuten länger –, kann man sich sparen. Was mache ich mit mehr Zeit, wenn die Luft draußen ist? Nun hat die moderne Technik auch noch dem Spiel selbst die Seele genommen. Der Ball eine leere Hülle, der Sport verhökert und das Spiel ruiniert!
Wen kümmert all das überraschend wenig? Richtig, den Fußballfan! Auch bei dieser WM sieht man beeindruckend emotionale Bilder von leidenden, jubelnden und mitfiebernden Fußballfans. Der Fußballfan – männlich wie weiblich – ist der letzte Garant, dass Fußball überhaupt noch funktioniert. Er/Sie ist die letzte Bastion zur Verteidigung unseres Spiels gegen Geldgier, Inkompetenz und Empathielosigkeit der verantwortlichen Weltfunktionäre. Und denkt immer daran: Die Stadien bleiben leer, wenn wir nicht hingehen und die Kassen der FIFA bleiben leer, wenn wir nicht zusehen!

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